Ries, Thorsten

Aus AG-Tagung 2020
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Dr. Thorsten Ries (Gent, Antwerpen)

Vortrag und Moderator Sektionen IV

Paragenese, f., digitale

Anders als die Schriftspur einer Handschrift oder die Lettern eines mit einer mechanischen Schreibmaschine getippten Typoskripts werden digitale Dokumente und digitale Schreibprozess- Spuren durch Datenverarbeitungsprozesse erzeugt, welche nur teilweise, mitunter nur bedingt oder gar nicht der Kontrolle des Nutzers unterliegen. Betrachtet man die digitalen Spuren von Schreibprozessen auf einem archivieren und forensisch gesicherten Computer, fällt auf, dass viele dieser Spuren zwar Fragmente von Entwurftexten in verschiedenen Stadien wiedergeben und offenbar auf kreative Interaktion des Schreibers mit der Applikation zurückgehen, der Grund ihrer digital-materialen Existenz und Überlieferung sowie deren Form jedoch nicht in einer als bleibend konzipierten Beschriftung des Textträgers durch den Schreiber zurückgeht, sondern auf die automatische Entscheidung eines Algorithmus über die Verwaltung und Sicherung von Systemressourcen. Es kann davon ausgegangen werden, dass viele digitalforensisch rekonstruierbare Textstadien, etwa in temporären Dateien und Sicherungskopien, Systemwiederherstellungspunkten, Dateistrukturartefakte und Dateifragmente im unallocated space der Festplatte, nicht auf eine bewusste Autorentscheidung zurückgehen, den jeweiligen Textzustand zu sichern, sondern auf einen automatisch ablaufenden Systemprozess. Dieser Umstand erzeugt eine Reihe theoretischer und praktischer Probleme für historisch-kritische und genetische Editionen. Zum einen sind viele dieser Entwurfspuren genetisch und technisch bedingt fragmentiert. Oftmals handelt es sich nicht mehr um intakte „Dokumente“ oder Dateien, sondern um erst zu entschlüsselnde Datenfragmente, so dass Begriffe wie „Text“ und „Dokument“ sowie die Sicherung, Rekonstruktion und Kommentierung von Genese und Überlieferung überdacht werden müssen. Zum anderen werden diese Schreibprozessspuren als Dokument und Evidenz nicht mehr durch die Unterscheidung von Endo-, Exo- (de Biasi) und Epigenese, bzw. Mikro- und Makrogenese (van Hulle), abgedeckt, da Zeitpunkt und materiale Form der Speicherung nicht durch den Schreiber, sondern durch den parralel ablaufenden System-Datenverarbeitungsprozess und dessen Notwendigkeiten bestimmt wurden. Aus diesem Grund bietet sich für diese digitalforensisch rekonstruierbaren Schreibprozessspuren, eine Bezeichnung aus der Geologie entlehnend und die Terminologie Van Hulles ergänzend, der Begriff Paragenese an. Die paragenetischen Prozesse der Datenverarbeitung laufen parallel zur Endogenese auf der Word Processor Benutzeroberfläche ab. Die Internet-Recherche des Schreibers hinterlässt Spuren exogenetischer Aktivität, allerdings hierbei auch paragenetische Spuren im jeweiligen System. Entsprechendes gilt für die Epigenese, insofern sie als digitale Weiterverarbeitung eines Textes geschieht.