Nantke, Julia

Aus AG-Tagung 2020
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Prof. Dr. Julia Nantke (Hamburg)

  • 2016 Promotion. die Arbeit ist erschienen unter dem Titel „Ordnungsmuster im Werk von Kurt Schwitters. Zwischen Transgression und Regelhaftigkeit“, Berlin/Boston: De Gruyter 2017 (= spectrum Literaturwissenschaft; 59)
  • wissenschaftliche Mitarbeiterin (PostDoc) am „Graduiertenkolleg 2196 Dokument – Text – Edition“ an der Bergischen Universität Wuppertal
  • seit 10/2019 Juniorprofessorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg

Forschungsschwerpunkte

Digitale Literaturwissenschaft; Literatur und Kunst der Avantgarden; Literaturtheorie; Editionswissenschaft; Materialität und Medialität der Literatur

Vortrag

Das Beiwerk als Hauptwerk: Zur Verschiebung textueller ‚Kräfteverhältnisse‘ in digitalen Editionen

Paratexte sind in der Editorik traditionell insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses von originalen und editorischen Peritexten Bestandteil wissenschaftlicher Reflexion. Dies gilt etwa für Fragen der Übertragbarkeit materieller und medialer Merkmale der Ausgangsdokumente in die Edition (vgl. z.B. Lukas u.a. 2014). Auch die Debatten um Formen und Funktionen editorischer Kommentare (vgl. z.B. Martens 1993) können unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden. So bilden Kommentare Peritexte im Sinne ihrer Zugehörigkeit zu jener räumlich und materiell charakterisierten „Zone“, die Genette dem Herausgeber eines Textes zuordnet (vgl. Genette 2001: 22). Für die Differenzierung unterschiedlicher Formen von Peritext ist nicht zuletzt die Frage der jeweiligen Autorschaft von Relevanz im Sinne der editorischen Perspektivierung: Geht es bei der Kommentierung häufig um das Erreichen einer größtmöglichen Intersubjektivität, ist für den auktorialen Paratext in Form von skripturalen oder texträumlichen Eigenheiten gerade der spezifische Sonderfall von Interesse. Alle paratextuellen Formate eint allerdings, dass sie traditionell ausschließlich in Bezug auf das Werk als die primär relevante Einheit perspektiviert werden. Die Digitalisierung in der Editorik – so die Ausgangsthese des vorgeschlagenen Beitrags – trägt zur Stärkung der Rolle von Paratexten in Produktion und Rezeption bei, die eine Verschiebung der textuellen ‚Kräfteverhältnisse‘ zur Folge hat: Der Paratext rückt als das Eigentliche der Text-(Re-)Präsentation vollständig in den Fokus und entfaltet auf diese Weise einen entscheidenden Einfluss auf die editorisch vermittelten Konzepte von Werk und Autorschaft. Diese These soll im Vortrag anhand von drei Phänomenen ausgeführt werden: 1. In digitalen Editionen hat sich – maßgeblich forciert durch die medialen Möglichkeiten – eine Darstellungsebene etabliert, die der Rekonstruktion materieller Charakteristika der Originale gewidmet ist. Visuelle Reproduktionen des Originaldokuments werden mittlerweile selbstverständlich in digitale Editionsinfrastrukturen eingebunden und dabei häufig in der Präsentation dem Textinhalt gleichgestellt (Text-Bild-Ansicht). Zeittypische Muster und auktoriale Idiosynkrasien auf skripturaler und texträumlicher Ebene können so verstärkt zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchungen werden. 2. Autorenbibliotheken und Lesespuren in deren Beständen sowie Exzerpthefte und Notizbücher avancieren im Zuge der gesteigerten Möglichkeiten zur massenhaften Erfassung und Vernetzung von Texten zum zentralen Gegenstand verschiedener aktueller Forschungsprojekte im Grenzbereich von Edition, Archiv und Analyse (u.a. Beckett, Derrida, Fontane, Th. Mann). Die Dynamik zwischen Lesen und Schreiben, zwischen der Rezeption fremder und der Produktion eigner Texte steht hierbei im Zentrum, wobei die eigentlichen Werke der Autorenbibliotheken vorrangig als ‚Träger‘ der paratextuellen Annotationen ihrer Besitzer fungieren. 3. Auf der Ebene der Benutzung digitaler Editionen funktionieren technisch implementierte Annotationen (Metadaten, Markup, Links) zunehmend als übergeordnete Lektüreraster. Auch Print-Editionen dienen zwar seit jeher eher der ‚systematischen‘ als der linearen Lektüre. Allerdings verschiebt sich der Schwerpunkt im Digitalen noch stärker in Richtung einer Nutzung herausgeberseitig vorgegebener paratextueller Strukturen, wenn die edierten Textmengen unüberschaubar werden und sich die Möglichkeiten des Zugriffs über Verlinkungen und visuelle Präsentationsformen multiplizieren (vgl. z.B. die digitale Horváth- Edition). Diese teilweise wechselwirkenden Entwicklungen sollen im Vortrag in ihrer Abhängigkeit von den Bedingungen digitaler Text-(Re-)Präsentation dargestellt sowie in Bezug auf ihren Einfluss auf die Konzepte von Autorschaft und Werk und das Verhältnis von Werk und Beiwerk in der Edition hin befragt werden.