Braunstein, Dirk

Aus AG-Tagung 2020
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Dr. Dirk Braunstein (Frankfurt am Main)

  • 2010-2011 Arbeit für die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur an der Edition und der Herausgabe der Vorlesung Philosophie und Soziologie (1960) aus dem Nachlass Theodor W. Adornos
  • 2011 Promotion in Philosophie an der Freien Universität Berlin. Dissertationsthema: »Adornos Kritik der politischen Ökonomie«
  • 2011-2012 Lehrauftrag für Politische Soziologie am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin
  • seit 2013 Mitglied im Vorstand der Internationalen Georg Lukács-Gesellschaft
  • seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung in Frankfurt a. M.
  • seit 2017 Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Editionsprojekts »Friedrich Pollock: Gesammelte Schriften in sechs Bänden« am Historischen Seminar der LMU München
  • seit 2017 Editorial Board Member der Buchreihe „Critical Theory and the Critique of Society“

Forschungsschwerpunkte

Kritische Theorie; Kulturindustrie; Verhältnis von Philosophie und Soziologie; Archivtheorie

Vortrag

Para - Texte als Beitexte ihrer eigenen Genese

Seit 2014 bearbeite ich, gefördert durch die Gerda Henkel Stiftung und unter Leitung von Axel Honneth, das Projekt »Die Frankfurter Seminare Theodor W. Adornos. Edition und Publikation der Gesammelten Sitzungsprotokolle 1949–1969«. Ihm zugrunde liegen 476 Sitzungsprotokolle aus 57 Seminaren, die auf Adornos Veranlassung hin angefertigt wurden: In jeder Seminarstunde hatte ein Student oder eine Studentin das Protokoll zu führen, das meist in der folgenden Sitzung verlesen wurde, um den Anschluss an die stattgehabte Diskussion wiederherzustellen. Anhand der Probleme, die sich bei der Edition der Sitzungsprotokolle ergeben, erhellt sich, dass den philologischen Kategorien der Autorschaft, der Autorisierung sowie der Authentizität sowohl bei der Edition als auch bei der Rezeption jener Protokolle materialbedingt eine andere Bedeutung zukommt als etwa bei zu Lebzeiten publizierten Werken, nachgelassenen Schriften, Vorlesungsnachschriften, Briefwechseln, Tagebüchern und Notizen. Agens der Edition ist kein »Werk«, auch kein Autor. Wenngleich damit zu rechnen ist, dass es in der Hauptsache das Interesse an Adorno sein wird, das zur Rezeption der Seminarprotokolle bewegen wird – an seiner Lehrtätigkeit, dem Umgang mit den Studenten, hoffentlich auch an der Kritischen Theorie –, so handelt es sich doch an keiner Stelle so um »Adorno« wie bei seinen Schriften inklusive den nicht-autorisierten Vorlesungen innerhalb der Nachgelassenen Schriften. Adorno hat die Sitzungsprotokolle nicht nur nicht autorisiert: Er hätte auch nicht die Autorität dazu gehabt, geschweige denn eine Autorschaft. Die Protokolle bilden nicht den Seminarverlauf ab, sondern bestenfalls wohl so etwas wie das Verständnis des Protokollanten vom Verlauf mit Blick darauf, was für das Protokoll als solches wichtig sein mag, somit zugleich die Bedingungen seiner eigenen Genese, ohne dass diese Bedingungen abseits des Protokolls fortbestünden; die Protokolle sind die einzigen Zeugen ihrer Entstehung, Texte, die als »eigentlich« gelten könnten, sofern sich jene darauf bezögen, existieren aus immanenten Gründen der spezifischen wissenschaftsliterarischen Gattung »Sitzungsprotokoll« nicht. Insofern sind die Protokolle einerseits »Para«, andererseits »Texte«, aber keine Paratexte, weil, worauf sie sich beziehen, niemals textliche Gestalt hatte – sie textualisieren (als »Werk«) erst, was zuvor Prozess war: die jeweils spezifische Lehr- und Lernsituation innerhalb des so und nicht anders gestalteten historischen Seminarkontexts, dem sie entstammen und dessen Teil sie zugleich sind. Mein Vortrag will, vom Besonderen ins Allgemeine gehend, an der Edition der Protokolle zeigen, wie sehr die Unterscheidung des – zu edierenden – Werktexts einerseits sowie des als Paratext zu behandelnden – und ggf. als solchen zu edierenden – Beiwerks stets eine ist, die, obzwar materialbezogen, so doch nicht aus dem Material als solchem hervorgeht, sondern vom Editor in der jeweils konkreten historischen Situation unabdingbar getroffen werden muss. Insofern stellt sich, methodologisch gesprochen, vor der Frage, wie mit Paratexten editionsphilologisch zu verfahren sei, notwendig und stets aufs Neue die, was als Text und was als Beitext erst erachtet wird: gegen die Identifizierung von Text und »Werk«. Damit soll keiner Beliebigkeit editionsphilologischer Begriffe oder gar Praxis das Wort geredet werden, sondern im Gegenteil das begriffliche Instrumentarium geschärft werden.