Brüning, Gerrit

Aus AG-Tagung 2020
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Dr. Gerrit Brüning (Weimar)

  • 2000-2006 Studium der Neueren deutschen Literatur, der Neueren Geschichte und der Politikwissenschaft an der Universität Hamburg und an der FU Berlin
  • 2009-2011 Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Klassik Stiftung Weimar
  • seit 2009 Beteiligung an der Edition von Goethes Faust
  • 2012 Promotion an der Freien Universität Berlin
  • 2013 Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Würzburg
  • 2011-2013 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Freien Deutschen Hochstift
  • 2013-2019 Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Goethe-Universität Frankfurt am Main
  • 2017 Externer Lektor der Universität Klagenfurt
  • seit 3/2019 Forschungsreferent im Stabsreferat Forschung und Bildung der Klassik Stiftung Weimar

Editionen

Forschungsschwerpunkte

musikalische Notation; semantische digitale Musikwissenschaft; Musikphilologie

Vortrag

Typographieanaloge Elemente in Dramenhandschriften. Am Beispiel des ‚Tasso‘ und anderer Dramen der Goethe‐ und Cotta‐Zeit

Beim Übergang von der Handschrift zum Druck löst sich ein Text aus der alleinigen Verfügung des Autors und wird äußeren Einflüssen ausgesetzt. Unter anderem wird das Erscheinungsbild des Textes typographisch in einer Weise normiert, die für eine Gattung, einen Verlag oder eine Epoche konventionell sind. Es wäre jedoch voreilig, aus dieser allgemeinen Beobachtung zu schließen, dass Handschriften selbst keine der Typographie analoge Struktur aufwiesen. Im Gegenteil: Werkhandschriften sind von einem gewissen Grad der Ausarbeitung an oftmals sogar so gestaltet, dass sie typographische Merkmale eines künftigen Drucks vorwegzunehmen scheinen (vgl. z.B. Bohnenkamp 2018, 396), selbst wenn sie nicht als Druckvorlagen gedacht und nur für private Zwecke bestimmt sind. Wurde die jeweilige Druckvorlage später vernichtet oder fehlt sie aus anderen Gründen, sind die verlagsseitigen typographischen Entscheidungen von den auf den Autor selbst zurückgehenden Gestaltungselementen nicht ohne weiteres zu unterscheiden. (Für das 19. Jahrhundert gilt die Faustregel, dass zu im Druck vorliegenden Werken im Normalfall keine Handschriften oder nur spärliche Reste erhalten sind.) Eine derartige Unterscheidung ist für wissenschaftliche Editionen jedoch anzustreben, um zwischen autorseitiger und verlagsseitiger Herkunft einzelner Gestaltungsweisen differenzieren zu können. Editionswissenschaftlich scheint die Frage bislang wenig diskutiert zu sein (kaum eine Edition – zumindest von Texten des 19. Jahrhunderts – gibt über ihr typographisches Verfahren und die dabei geltenden Prinzipien detaillierte Auskunft). Gleichwohl stellt sich für jede Edition unvermeidlich die Frage, welche Typographie der jeweils edierte Text aufweisen soll: Gilt das typographische System der Ausgabe ganz unabhängig von den Vorlagen, oder soll sie sich an diesen orientieren? Soll die Typographie eines gegebenen Drucks nachgebildet, oder sollen nur die strukturellen Verhältnisse adäquat umgesetzt werden? Oder verdienen diejenigen Elemente besondere Beachtung, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den Autor zurückgehen? Zumindest der Versuch, das gesamte typographische Erscheinungsbild der jeweiligen Vorlage zu berücksichtigen, führt – außer im Fall der Faksimilierung – unvermeidlich zu Inkonsistenzen. Dramatische Texte sind wegen der Herkunft des Texttyps aus Vorlagen für theatrale Aufführungen typographisch besonders stark strukturiert, besonders infolge des ständigen Wechsels von sogenanntem Haupt‐ und Nebentext (Platz‐Waury 2000; Detken 2009; Rockenberger/Röcken 2009). Feine Abstufungen und Übergänge zwischen Para‐ und Nebentext, diskrete Binnengliederungen von Szenen sowie vielfältige Auszeichnungsformen und Differenzierungen erhöhen die typographische Komplexität (zur Dramentypographie vgl. Peters 2000, 93–145; Falk 2016; Rahn 2018; zur Semiotik der Typographie vgl. grundlegend Wehde 1995). Deswegen bilden Dramen einen sinnvollen Ausgangspunkt für die Untersuchung von Fragen wie den folgenden: Welche typographieanaloge Eigenstruktur weisen Texte in handschriftlichen Stadien auf? Welche drucktypographischen Elemente haben eine genaue Entsprechung in handschriftlichen Merkmalen? Welche Elemente sind gewöhnlich nur in Drucken vorhanden, nicht aber in Handschriften? Welche Elemente sind eher für einzelne Autoren typisch, welche können bei einer Mehrzahl von Autoren eines bestimmten Zeitraums vorausgesetzt werden? Auch bei sehr lückenhafter Überlieferungslage kann es möglich sein, vermeintlich rein typographische Details mit großer Sicherheit auf verlorene handschriftliche Vorstufen zurückzuführen, woraus sich u.U. weiterreichende Schlüsse auf frühere Textzustände ergeben, die entstehungsgeschichtlich von Interesse sind (vgl. z.B. Pravida 2015, 67–74 zur Markierung von Szenengrenzen in der “Urfaust”‐ Handschrift und im Druck des Faust‐Fragments). Eindeutig lassen sich solche Entsprechungen und demgegenüber setzerische Zutaten und Entscheidungen jedoch nur dann identifizieren, wenn handschriftliche Vorlagen eines Drucks erhalten sind. Der Vortrag geht daher von einem Werk mit einer vergleichsweise günstigen Überlieferungssituation aus, Goethes “Torquato Tasso”: Dessen erhaltene Druckvorlage, verteilt auf die beiden Handschriften H1 und H2, wird hinsichtlich der umrissenen Fragestellung mit dem ersten Druck in den Göschenschen Schriften (Bd. 6, 1790) verglichen. Versdramen Goethes – neben „Tasso“ werden „Iphigenie auf Tauris“ und „Faust“ herangezogen – stehen vorerst im Zentrum; weitere Handschriften (Entwürfe, Reinschriften) und Drucke zwischen 1775 und 1835 erschienener Dramen (voraussichtlich Kleist, Brentano, Büchner, Eichendorff) werden herangezogen, um etwaige autorübergreifende verlags‐ und epochentypische Tendenzen identifizieren zu können. Ziel des Vortrags ist, Anhaltspunkte für eine fundiertere Einschätzung drucktypographischer Phänomene v.a. in Texten des 18. und 19. Jahrhunderts (Überschriften und Szenengrenzen, Sprecherangaben und ihr Fehlen, Benutzerorientierung/Texteinrichtung für den Leser, Verseinrückungen, Auftrittsangaben) hinsichtlich ihrer Autornähe und hinsichtlich der von Verlagen geübten Konventionen zu gewinnen, um daraus Anhaltspunkte für einen verantwortlichen editorischen Umgang damit zu gewinnen.