Hunfeld, Barbara

Aus AG-Tagung 2020
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Dr. Barbara Hunfeld (Würzburg)

  • Nach dem Studium der Germanistik und Geschichte promoviert mit einer Arbeit zum "Blick ins All. Reflexionen des Kosmos der Zeichen bei Brockes, Jean Paul, Goethe und Stifter".
  • Präsidentin der Jean-Paul-Gesellschaft
  • Herausgeberin der neuen historisch-kritischen Jean-Paul-Werkausgabe gemeinsam mit Helmut Pfotenhauer
  • Leitung der Arbeitsstelle Jean-Paul-Edition am Institut für deutsche Philologie der Universität Würzburg

Editionen

Forschungsschwerpunkte

Autopoetologie; deutsche Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts; historische Semiotikdiskurse; Edition

Vortrag

Bei-„Werk“ beim Schreiben des Werkes – Jean Pauls (1763-1825) sogenannte Vorarbeiten

Zu den noch ungehobenen Schätzen der Klassikerüberlieferung gehören jene Handschriften Jean Pauls (1763-1825), die im Kontext der Genese seines veröffentlichten Werks entstanden sind. Sie werden bis heute als Werk-„Vorarbeiten“ bezeichnet. Gleichwohl ist, was genau sie darstellen, aufgrund noch ausstehender Edition nicht geklärt. Schon der Begriff „Vorarbeiten“ ist problematisch. Er bestimmt die handschriftliche Überlieferung retrospektiv vom veröffentlichten Werk her. Dabei entstammt er der editorischen Anfangszeit der Jean-Paul- Erschließung im frühen 20. Jahrhundert. Deren traditionelle Vorstellung von Klassizität des „Dichterwerks“ gab eine Teleologie vor, welche alles Schreiben ihren Entwicklungsbegriffen einverleibte. Solcher Optik entsprechend kategorisierte man die Handschriftenkonvolute als den Werken beizuordnende Materialien. Sie waren nicht als solche zu edieren, sondern dem Leser lediglich „mitzuteilen“, in Auswahl oder zusammenfassender Paraphrase. Die Texte sprachen nicht für sich, sondern ihre Herausgeber sprachen; es ging um Interpretation, nicht um Edition. Demgegenüber sah die seit den 90er Jahren vorbereitete heutige Jean-Paul-Edition die vollständige editorische Darbietung der Konvolute vor. Allerdings blieb die Auffassung, es handele sich um Beitexte zu den Werken, insofern bestehen, als die Handschriftenedition Teil der (Materialien und Erläuterungen bereitstellenden) Kommentarbände sein sollte. Demnach wären die Manuskripttexte beigeordnete „Kommentare“ zum Werk. Daß sie mit jenem im engen Zusammenhang stehen, ist im Einzelnen nachweisbar; doch von „Vorstufen“ und „Entwicklungsstadien“ zu sprechen, ist aus heutiger Sicht bestenfalls heuristische Metaphorik. Bei den Handschriften handelt es sich, von wenigen Erstformulierungen abgesehen, nicht um Textstudien, sondern um ein Labyrinth polyvalenter Ideennotate. Anders, als von der frühen Jean-Paul-Philologie im Sinne ihres Klassizitätsbegriffs projiziert, gibt es keine „Ordnung“ der Aufzeichnungen im Sinne eindeutiger Rubrizierungen, getrennter Hefte und klar nachvollziehbarer Motivgenesen. Stattdessen sind die Notate ein merkwürdiges Zugleich von Disparatem und Ineinanderströmendem. Lineare Sukzession ist fast nur die Zeilenabfolge, kaum je aber die Semantik, die in alle möglichen Richtungen eilt. Offensichtlich stellen die handschriftlichen Aufzeichnungen mit ihren vielen Konvoluten einen eigenen, einen eigenlogischen Bereich des jeanpaulschen Schaffens dar. Deshalb hat die heutige historischkritische Jean-Paul-Edition entgegen der Tradition den Entschluß getroffen, die sogenannten Vorarbeiten in eigenen Texteditionsbänden zu edieren. Sie werden der Forschung nicht nur Grundlagen für produktionsästhetische Untersuchungen erschließen, sondern auch Dokumente aus Klassikerhand, anhand derer sich die Frage, was ein Text sei, neu erörtern läßt. Tatsächlich gibt es jedoch schon jetzt lesbare „Beitexte“ zu Jean Pauls Werken; jeder kennt sie, und zwar als Teile der veröffentlichten Werke, in Form digressiver Einsprengsel von Zusatzkapiteln, Unterbrechungen, Essays, in der Regel ohne erkennbaren Zusammenhang mit den Werken und ihnen dennoch, wie Jean Paul schreibt, „beigeleimt“. Eines der zentralen – und für seine Leser nervenaufreibenden – Merkmale des jeanpaulschen Oeuvres ist gerade die ständige Zumutung des aufgekündigten Zusammenhangs, im Wuchern und Überborden des Textes, der sich, entgegen der Klassizitätspräsupposition, zu keiner in sich vollendeten und damit stillgestellten Ganzheit fügt. Selbst das einmal publizierte Werk wird dabei in neuen Auflagen fortgeschrieben, teils wird von Figuren in anderen Werken neuerzählt. Ob in seiner Textwerkstatt oder in den veröffentlichten Texten, immer wird eine Unendlichkeit des Schreibens prätendiert. Das mit Jean Paul verbundene, schon von den Zeitgenossen unter Haareraufen kommentierte Formproblem besteht, wie die Jean-Paul-Edition inzwischen zeigen kann, nicht nur in der Ambivalenz seines Druck-„Werks“ zwischen sich verändernden Textversionen und der Utopie eines erschriebenen Gesamtkosmos. Die Struktur der sich in den Druckauflagen konturierenden Werke bildet sich gerade in der programmatischen Heterogenität der Handschriften ab, indem das Organisationsprinzip der gedruckten Werke – Vernetzung vielfach anschließbarer Bilder, produktive Offenheit der in alle Richtungen eilenden Anspielungen, Diskontinuität als bewußte „Störung“ der Geschichte – sich in die in diesem Sinn offene Anlage der Handschriftennotate zurückverfolgen läßt. Der Zusammenhang zwischen Werk und „Vorarbeiten“ sollte also, so der Vorschlag, weniger inhaltlich bestimmt als auf die Dynamik des jeanpaulschen Schreibens bezogen werden. Dabei mögen Werk und Handschrift jeweils füreinander Beitext sein.