Wesemann, Lorenz: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 16. Januar 2020, 07:03 Uhr
Inhaltsverzeichnis
Lorenz Wesemann, M. A. (Marbach)
Editionen
Forschungsschwerpunkte
Deutschsprachige Lyrik (v.a. Heinrich Heine, Paul Celan, Oskar Pastior, Thomas Kling); auditive Literatur; Stimme als Medium; mediale Aufzeichnung von Stimmen
Vortrag
Stimmwerk: Der auditive Nachlass von Oskar Pastior im Deutschen Literaturarchiv
Das Werk Oskar Pastiors als das eines Schriftstellers zu begreifen, greift zu kurz, wenn man in dieser Bezeichnung das Primat der Schrift installiert und die Stimme als Beiwerk ins Sekundäre rubriziert sieht. Poetologisch muss man bei Pastiors Lyrik von einer hierarchischen Gleichstellung von Stimme und Schrift ausgehen, was sich nicht nur in einem Titel wie dem des 1975 erschienen Bandes „Höricht“ deutlich zeigt, sondern publikationsgeschichtlich erkennbar ist: Mit der aufkommenden Kompaktkassette veröffentlichte er Ende der 70er Jahre vier seiner Gedichtbände selbst eingelesen beim S-Press-Tonverlag, ab Ende der 90er bei Urs Engler Medienkombinationen aus Buch und CD. Begleitend dazu las er extensiv öffentlich aus seinem Werk und begriff auch dies als wesentlichen Teil seiner Dichtung. Der Nachlass von Oskar Pastior zeichnet sich folgerichtig durch ein beständiges Ineinander von Stimme und Schrift aus. Eine Vielzahl an MCs mit Leseauftritten, Belegexemplare von Radiosendungen u. ä. finden sich darin ebenso wie insgesamt 35 Tonbänder, die er 1989 im Tonstudio des Literarischen Colloquiums in Berlin einlas und die sein bis dato gesamtes veröffentlichtes Werk beinhalten. Es ist davon auszugehen, dass Oskar Pastior, der akribisch Manuskripte, Dokumente etc. aufbewahrte und archivarisch strukturierte, auch seine Gedichte in Ihrer Form der aufgezeichneten, eigenen Stimme seinem archivierten Werk hinzufügen wollte. Ein groß angelegter, akustischer Veröffentlichungsplan ist nicht bekannt. Wie in sonst kaum einem anderen Nachlass verzahnen sich das schriftliche und das auditive Werk des Autors aber auch in seinen Manuskripten, Briefen und sonstigen Dokumenten. Die Manuskript- und Typoskriptkonvolute zu den einzelnen Gedichtbänden sind mit einem Inhaltverzeichnis versehen, das die Entwürfe zu den einzelnen Gedichten entsprechend der Seite in der Veröffentlichung auflistet und zu ihnen die Orte und Daten der ersten Lesung bzw. Sendung notiert. Die Handexemplare in seiner Autorenbibliothek stellen eine Besonderheit dar, da zu nahezu allen seinen Gedichte Annotationen für Leseanweisungen, wörtlich verstandene Lesarten also, existieren. Was klassisch als Lesespuren bezeichnet wird, lässt sich in der Bibliothek Pastior etwas sprachspielerisch als Tonspuren bezeichnen. Der schriftlich-akustisch Nachlass wie auch das veröffentlichte Werk bilden, so die These des Vortrags, eine auditive, d. h. aufs Hören bezogene Einheit, der editorisch beizukommen wäre, was ein Denken jenseits des Buches erfordert. Dass dies in der im Hanser Verlag erscheinenden Werkausgabe nicht der Fall ist, mag ökonomische Gründe haben, ist aber mediengeschichtlich und editionswissenschaftlich verfehlt: Oskar Pastiors Werk und Nachlass verlangen ein offenes Ohr, das bereit ist, die kulturell eingeübte Dominanz des Textes zu hinterfragen. Eine Werkausgabe, die sich nur aufs Schriftliche konzentriert, kassiert eine mediengeschichtliche Selbstverständlichkeit stillschweigend ein, dass nämlich Stimme seit 1878 speicherbar ist, und lässt als auratisches Beiwerk verkümmern, was im Falle Oskar Pastiors Hauptwerk ist. Gerade der digitale Raum aber öffnet hier die vielfältigsten editorischen Möglichkeiten, etwa im Stile einer Audio-Datenbank, die die Text- und Hörversion der einzelnen Gedichte mit text-sound-alignment tools in Beziehung setzt. Im Projekt „Autorenlesungen“ am DLA Marbach, dass das Bundesministerium für Bildung und Forschung von November 2017 bis Dezember 2019 fördert, wird auch der Tonnachlass von Oskar Pastior wissenschaftlich erschlossen, die einzelnen Tondokumente auf den Online-Plattformen des DLA öffentlich zugänglich gemacht. Einher geht damit die Erstellung von Metadaten, die, ohne freilich Edition zu sein, einen editorischen Grundstock liefern könnten, der eine historisch-kritische Beschreibung der Textgenese über die mono-mediale Grenze der Schrift hinaus ermöglichte.